Edita Gruberova
Das Interview
Das Opernglas, 1/2006Frau Kammersängerin, man glaubt es kaum: Seit Ihrem Debüt mit der Rosina in Bratislava sind 37 Jahre vergangen, einer Partie, die Sie noch heute singen. Lucia und Zerbinetta befinden sich ebenfalls seit Jahrzehnten in Ihrem Repertoire. Sie strebten nie den Wechsel ins lyrisch- dramatische Fach an und begeistern noch heute mit der unverminderten Flexibilität Ihres Belcanto-Soprans. Was macht Ihre Karriere so einzigartig: das Geschenk einer außergewöhnlichen Stimme oder Ihre eiserne künstlerische Disziplin?
Für mich ist es ein Ergebnis der Selbsterkenntnis. Es gab einen Punkt in meiner Karriere, an dem mir klar wurde, welches mein ureigenstes Fach ist. Ich habe die so genannten Fachgrenzen stets nur sehr behutsam erweitert, vor allem nie überschritten. Denken Sie an die Manon von Massenet oder auch >La Traviata<, die gingen durchaus an die Grenzen. Ganz entscheidend ist, wie man diese Limits für sich auslotet. Da gilt es aufzupassen. Die Verlockung ist natürlich groß, insbesondere in den mittleren Jahren, wo der Enthusiasmus für Neues besonders groß ist. Wenn man an diesem Punkt zu weit geht, ist es gefährlich. Die Stimmbänder müssen einem sagen, was geht und was nicht. Wenn man diese Signale respektiert, kann eigentlich nichts passieren.
Umsicht bei der Wahl der Rollen ist sicher ein Schlüssel zum Erfolg. Für eine singuläre und derart beständig andauernde Karriere braucht man mehr. Was ist Ihr Geheimnis?
Natürlich braucht man eine gute Basis: Technik. Davon sprechen zwar viele, aber die wenigsten haben eine Ahnung davon. Ob Gottesgeschenk oder Naturgabe: Keine Frage, man braucht schon Talent - aber man muss es kultivieren. Ohne das geht es nicht. Den richtigen Lehrer dafür zu finden, ist ein immenses Glück. Das hatte ich mit Frau Kammersängerin Ruthild Bösch. Wenn manche von dem "Wunder Gruberova " sprechen, dann ist es vor allem die Technik, die sie mir vermittelt hat. Oder vielleicht beides: Talent und Technik. Allerdings konnte ich es mit meinem Selbstverständnis nicht zu einer Vielzahl von 60 oder mehr unterschiedlicher Partien bringen.
Viele Künstler der nachwachsenden Generation beteuern heute, sie würden Vorsicht bei der Wahl geeigneter Partien walten lassen. Und dennoch werden die Karrieren immer kürzer. Wie erklären Sie das?
Weil zu viele von Technik sprechen, ohne etwas davon zu verstehen. Und dann ist oft nach wenigen Jahren Schluss. Man muss begreifen, was bei einer kleinsten Indisposition mit Technik zu machen ist - und was nicht! Wer das nicht akzeptiert, hat verloren.
Ihre Interpretationen galten früher für manche als vordergründig technisch perfekt. Heute sorgen Sie neben der für Sie selbstverständlichen Virtuosität mit einer eindrucksvollen Bandbreite emotionsgeladener Bühnenkunst für Furore.
Ich sehe das genauso. Es wäre aber auch schade, wenn am Ende nur noch "Ausdruck" geblieben wäre, die Stimme vielleicht kaum mehr als ein Rascheln hervorbringen würde. Das wäre entschieden zu wenig. Mir ist es wichtig, Frische und Qualität, sprich: eine intakte Stimme, zu erhalten. Das zusammenzubringen ist vielleicht das "Geheimnis", wenn Sie es so nennen wollen. Jetzt kann ich all das, was sich in den vielen Jahren an Erfahrung angesammelt hat, in die Musik legen und zum Ausdruck bringen, was tief in mir drin steckt. Dabei habe ich stets vermieden, die Stimme künstlich zu verändern. Es macht doch keinen Sinn, permanent zu drücken, zu pushen oder gar zu schreien, die Stimme gegen ihre Natur abzudunkeln, nur um des billigen Effektes willen.
Eine perfekte Überleitung zu Ihrer jüngsten Eroberung, der Norma. Sie zögerten lange, wurden gewarnt. Viele haben Ihnen den Erfolg mit dieser Partie schlichtweg nicht zugetraut. Dann kam der Triumph, erst in Japan, dann im Baden-Badener Festspielhaus bei Ihrem europäischen Debüt. Sind Sie stolz darauf?
Ja, sehr. Ich habe in der Tat lange gezögert. Es war dieser Mythos, der auf der Partie lastet: Norma, die große, unverwechselbare Heroine. Das ist sie natürlich auch, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.
Wurde die Norma zu lange als eine Art italienische Brünnhilde missverstanden?
Das sieht man schon daran, wie viele dramatische, selbst hochdramatische Kolleginnen sich an diese Partie gewagt haben. Aber das, was die Partitur beinhaltet, was Bellini meinte, verlangt etwas anderes. Der Belcanto der Norma entspricht durchaus meinen stimmlichen Möglichkeiten. Der Mythos hatte mich zunächst abgehalten - oder sagen wir es konkret: die Callas. Um diesen Namen kommt man nicht herum. Das ist gut und auch richtig. Aber durch sie entstand etwas, was nicht primär in der Partitur begründet liegt. Natürlich ist die Norma auch heroisch. Aber wichtiger ist die Frau dahinter, die leidende Frau. Es ist im Grunde so einfach zu bewältigen und von Bellini so herrlich geschrieben mit den wundervollen Melodien und den ganzen Gesetzmäßigkeiten, die der Belcanto verlangt. Das ist weder früher Verdi noch Verismo und deshalb auch nicht so zu interpretieren.
Wie haben Sie die Partie für sich zurechtgelegt?
Man muss vorrangig den spezifischen Kanon des Belcanto beachten: Fil di voce, messa di voce - das ist unbedingt umzusetzen. Man darf ein Forte bei Bellini nicht mit Wagner gleichsetzen. Eine dramatische Sequenz mit Koloratur kann nur mit den Stilmitteln des Belcanto gesungen werden. Wie will das eine Strauss- oder Wagner-Sängerin machen, wenn sie die Partitur halbwegs ernst nimmt? Vermutlich gelang nur der Callas dieser Spagat. Mir ist das auch bei anderen Partien bewusst geworden. Nehmen Sie die Sonnambula: Das ist im Grund reine Mittellage. Im anderen Extrem aber nichts für eine Soubrette, auch wenn sie sich die Koloraturen erarbeitet. Dann fehlen einfach zu viele stilistische Fassetten. Wenn man kein Piano auf dem C singen kann, kein messa di voce beherrscht, dieses Ansetzen eines Tones, ihn entwickeln und dann wieder zurücknehmen, dann ist für mich der Anspruch des Belcanto nicht erfüllt. Das ist alles.
Sie gehen bei Ihrer künstlerischen Arbeit mit größter Sorgfalt ans Werk. "Casta diva" etwa singen Sie in der höheren Originaltonart.
Darauf habe ich bestanden. Die Partitur war für mich der allein bestimmende Parameter: So steht es bei Bellini, und so muss ich es auch singen. Sonst hätte er es gleich in F-Dur schreiben können. Nur die Sängerin der Uraufführung, Giuditta Pasta, schaffte es damals nicht. Das kommt den Hochdramatischen heute natürlich entgegen. Auch die Callas hat es transponiert gesungen. Was entscheidend dazu kommt: Diesen Ganzton höher klingt es, wie mir auf den Leib geschrieben...
Umso maßgeblicher wird das Miteinander mit dem Dirigenten, seine Kompetenz in stilistischer Hinsicht. Der viel zu früh verstorbene Marcello Viotti war einer Ihrer Wegbegleiter, der das spezifische Vokabular des Belcanto beherrschte.
Ja, ich habe einiges mit ihm gemacht, vor allem >La Sonnambula<, >Beatrice di Tenda< und einige Donizetti-Opern. Es ist unentbehrlich, dass einer dies absolut beherrscht. Ich habe das zu meinem Leidwesen oft auch anders erlebt. Weder die Musik noch ich wurden ernst genommen. Beim Belcanto kommt es auf die vielen kleinen Details an, auf die Gestaltung jeder einzelnen Phrase. Man kann als Dirigent sicher nicht so markante Akzente setzen wie bei Wagner oder Strauss, aber die gesanglichen Ausdrucksmittel müssen mit dem Dirigat zu einer Einheit verschmelzen. Es sollte den Gesang stets tragen. Kommt eine derartige Zusammenarbeit zustande, befriedigt mich das sehr.
Sie geben konzertanten Vorstellungen verstärkt den Vorrang. Sind die Eskapaden mancher Regisseure schuld?
Der eigentliche Grund ist, dass ich der herausragenden Bedeutung der Musik im Belcanto auf diese Weise besser zu ihrem Recht verhelfen kann. Deshalb tendiere ich immer mehr zur konzertanten Form. Zu Zeiten Bellinis und Donizettis ging es vorrangig um die neue Musik, ihre Melodien, weniger um die Geschichten, die dahinter steckten. Wir haben die Fokussierung auf die Musik weitgehend verlernt. Das sieht man nicht zuletzt auch an den Kritiken. Schauen Sie nur auf die Proportionen in den Texten. Heute warten viele nur darauf, welcher Blödsinn auf der Bühne stattfindet. Die Konzentration auf die Musik, ihre wundervollen Details, kann ich meinem Publikum im Konzert besser vermitteln. Und ich glaube, das Publikum honoriert das auch. Dennoch, eine Partie wie die Norma schreit förmlich nach der Bühne. In Christof Loys genialer Deutung des >Roberto Devereux< in München haben Sie bewiesen, dass Edita Gruberova und Regietheater primär keinen Widerspruch darstellen müssen. Natürlich sollte Oper eine Synthese sein. Sie ist nun einmal Theater. Es geht mir lediglich um die Ästhetik. Die darf und muss neu sein. Bemalte alte Prospekte und Rampe sind bei Gott nicht meine Intention. Doch angesichts der Verdrehungen und Verfremdungen, die wir erlebt haben, habe ich ehrlich gesagt Angst um die nachwachsende Generation. Diesen Aspekt muss man doch auch sehen. Wenn man nicht mehr versteht, worum es in einem Stück eigentlich geht, werden die Opernhäuser vielleicht in einigen Jahren leer sein. Neue Ästhetik ja, bei allem anderen bleibt meine Antwort: Nein.
Beansprucht Sie die Partie der Norma stärker als andere?
Vielleicht deshalb etwas mehr, weil sie in meinem Repertoire noch so jung ist. Am Anfang war die Lucia nicht weniger schwierig. Wie die Zerbinetta ist sie über die Jahre gereift, ähnlich wie ein guter Wein. Jetzt kann ich mich auf die Emotionen konzentrieren, alles andere geht wie von selbst. Mit der Norma wird es, hoffe ich, ähnlich werden.
Kann man auf die Norma überhaupt noch etwas "draufsetzen"? Welche neuen Partien dürfen wir von Edita Gruberova künftig erwarten?
Ich frage mich das schon. Kann es immer weiter und weiter gehen? Ich halte das für problematisch. Die Elisabetta in >Roberto Devereux< war für mich bisher der absolute Höhepunkt bei Donizetti, ein logischer Gipfel in meiner Entwicklung. Momentan studiere ich die Lucrezia Borgia. Aber ich muss noch hinter die Partie kommen. Ich bin noch nicht soweit, bin unsicher, ob ich über die nötigen Farben und den Ausdruck verfüge. Bei Bellini reizt mich noch die Imogene in >Il pirata<. Hier gilt Ähnliches. Auch eine Nuss, die es zu knacken gilt. Sie hat viel Mittellage und Koloratur - und ein nicht zu unterschätzendes Tenorproblem, wie so oft. Ich möchte es aber gut haben mit den Kollegen, sonst bleibt das Gesamtergebnis enttäuschend.
Ein offenes Wort zum Mega-Hype um die neuen Klassik-Stars.
Das Ganze, wie es derzeit läuft, hat mit Kunst oft wenig zu tun. Das sind Marktstrategien der dahinter stehenden Firmen. Wachstum und immer wieder Wachstum. Nur darum geht es noch. Wohin soll das letztendlich führen? Der Markt ist gesättigt, alles ist dokumentiert, aufbereitet, selbst ältere Aufnahmen klingen hervorragend. Ein einziger Kampf ums Überleben. Die Künstler, die Menschen müssen dafür herhalten. Wer nicht mitmacht, fliegt raus, und der/die nächste kommt dran. Das ist das Gefährliche und Gemeine, denn es gibt viele gute Sänger. Und wer das vermeintliche Glück hat, wird zu einer Art Maskottchen gemacht. Bis hin zur Veränderung der Persönlichkeit. Das ist eindeutig zuviel. Wenn die Leute gut sind, wofür braucht man dieses Drumherum? Ich habe das zum Glück nur kurz und im Ansatz erfahren und schnell die Schranke herunter gelassen und mir gesagt: "Das bist du nicht." Es ist doch verrückt, was diese Leute allein an Nebenaktivitäten leisten müssen. Das nimmt mindestens die Hälfte der Energie weg für das Wesentliche: die Musik. Für mich jedenfalls wäre das nichts gewesen.
(Jörg-Michael Wienecke)
© Das Opernglas, 2006
Originally published in the January 2006 issue of Opernglas. Text reproduced by permission.