Edita die Große

Ein neues Podest für die Diva:

Edita Gruberova in Christof Loys Inszenierung

von «Roberto Devereux» in München

 

Von Bernd Feuchtner

 

Wenn der Vorhang sich öffnet, sind in der Lobby des Parlaments Angestellte mit Bohnermaschinen, Wasserspendern und Akten beschäftigt, leise erklingt «God save the Queen». Dann kommen Abgeordnete herein, darunter ein dunkelhaariger Schönling, alsbald von Frauen umschwärmt, denen er galant Feuer reicht. Aber er ist offensichtlich nervös und nicht bei der Sache. Der Raum füllt sich, die Geschäftigkeit beginnt. Ein älterer Staatsmann, wohl der Regierungschef, begrüßt ausgewählte Personen, man bereitet sich auf eine wichtige Entscheidung vor. Diese stumme Szene während der von Donizetti 1838 für die Pariser Erstaufführung komponierten Ouvertüre exponiert zwei der vier Hauptpersonen. Das genügt dem Regisseur Christof Loy im Münchner Nationaltheater, um das Drama in einem heutigen Ambiente anzusiedeln, wie es jedermann bekannt vorkommt.

Die Eröffnung selbst bleibt jedoch einer dritten Person vorbehalten, einer todtraurigen jungen Frau, die indiskrete Fragen mit der Antwort abweist, sie lese einen Roman: Jeanne Piland gibt Sara, der Frau des Herzogs von Nottingham, eine ruhige Würde, so dass wir neugierig werden, was denn wohl die Ursache ihrer Leiden sei. Dann tritt Maggie Thatcher auf sie zu - pardon: die Königin Elisabeth I. mit pompöser roter Lockenperücke. Auch sie ist nervös und verrät ihrer besten Freundin, warum. Weniger, dass Roberto Devereux sich heute wegen Hochverrats verantworten muss, interessiert sie, sondern ob er ihr mit einer anderen Frau untreu geworden ist. Die verzweifelten Blicke Saras verraten uns, dass Elisabeth sich da genau der Richtigen anvertraut... Als Devereux, Earl of Essex, frech selbst erscheint, zieht Elisabeth sich rasch noch einmal die Lippen nach und frischt das Rouge auf: große Szene zwischen den (Ex-?)Liebhabern. Und nun erkennen wir auch das dramatische Muster: Hier wird Soap Opera gespielt.

Während das Orchester flotte Rhythmen hämmert und fette Melodien sülzt, wird die Handlung auf Basic Instincts reduziert. Nach der Begegnung Elisabeths mit ihrer besten Freundin tritt Roberto nacheinander den anderen drei Protagonisten gegenüber: seiner Exgeliebten Elisabeth, seinem besten Freund Nottingham und schließlich seiner eigentlichen Geliebten Sara, mit der er Nottingham und Elisabeth gleichzeitig betrügt. Na, prima! Weder Elisabeth noch Nottingham, den Paolo Gavanelli mit Bonhomie und dem Brustton der Überzeugung ausstattet, ahnen etwas. Zoran Todorovich spielt zwischen allen den Latin Lover, dem man nur eines nicht glaubt: dass er Sara niemals angerührt hat.

Mit dem kurzen zweiten Akt, der in München ohne Pause folgt, wird die Schraube sogleich ein paar Umdrehungen weiter angezogen. Die Einheit von Zeit und Raum, die das Bühnenbild vorgibt, dient perfekt dem Muster der Soap. Das Todesurteil gegen Roberto ist gefallen, Elisabeth bekommt als Indiz in der Plastiktüte einen Schal überreicht - ein Liebespfand! Dass Nottingham aus der Haut des Biedermanns fährt, als er den von Sara genähten Schal sieht, deutet sie als Loyalitätsbeweis. Roberto kommt in dem folgenden Terzett kaum zu Wort, so scharf schießen die Raketen Elisabeths. Sie hat schon lange nicht mehr die Stärke der Eisernen Lady. Ihre Wut entlädt sich einer Walze gleich, die alle Vernunft niederdrückt, bis die Unterschrift auf dem Todesurteil steht.

Schon im Duett mit Roberto hatte Edita Gruberova stupende Koloratur-Künste vorgeführt, doch nun fährt sie noch eine Stufe höher. Donizettis Todes-Achterbahn der kleinteiligen Notenfolgen fährt sie entlang, als sei es ein Kinderspiel. Das An- und Abschwellen der Töne aus dem Nichts möchte auch das Gegenüber aus seiner Reserve ziehen oder ins Nichts stoßen. Jeder dieser aberwitzigen Töne ist psychologisch genau motiviert - die Zusammenarbeit der dem Regietheater gegenüber stets reservierten Diva mit Christof Loy hat zu einem grandiosen Ergebnis geführt.

Elisabeth/Edita rast und wütet, fährt ihre Königinnenwürde gegen den untreuen Liebhaber aus und droht ihm mit dem Tode: «Va', la morte sul capo ti pende» schreit sie ihn in diesem Terzett an, und selbst wenn auch noch der Chor meint, beschwichtigend eingreifen zu müssen, gellt ihr Schrei durch die Massen hindurch und über alle Stimmen hinweg in den Schlussakkord hinein.

«Roberto Devereux» war Donizettis Oper Nr. 57, und viel Zeit hatte er dafür nicht; das Maß der Routine in dieser Partitur ist entsprechend. Die Feinheit und die dramatische Größe Rossinis sind passé. Es war für den Komponisten allerdings auch keine gute Zeit: Seine Frau starb im Kindbett, nachdem er im Jahr davor schon die Eltern und ein weiteres Kind verloren hatte. Zudem herrschte in Neapel eine Choleraepidemie, die dazu zwang, die Premiere Woche um Woche zu verschieben. Das Publikum in der Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien von 1837 war stockkonservativ und das bourbonische Herrscherhaus borniert. Man wollte sich die Politik vom Halse halten und lieber Emotion pur haben - Soap Opera eben. Diese Opern bieten Kolportage, doch mit der Kolportage eines Eugène Scribe, der die Pariser Komponisten mit Politschockern erster Güte belieferte (1836 waren Meyerbeers «Hugenotten» herausgekommen), haben sie nichts zu tun. Auch in Donizettis elisabethanischer Trilogie bleibt jede politische Dimension völlig ausgeblendet. Es geht nur um die persönlichen Intrigen, aber die werden so elementar ausgespielt wie heute in einer Vorabendserie. Jede Frau träumt von Schönheit und Macht: Die Königin ist keine politische oder gar gesellschaftliche Größe, sondern ein Paradigma für jederfrau. Erst Benjamin Britten wird 1953 in «Gloriana», der Krönungsoper für die zweite Elisabeth, ein verfeinertes Bild vom Konflikt der «jungfräulichen Königin» mit Essex zeichnen.

Doch es kommt noch toller. Auch der letzte Akt ist psychologisch genau kalkuliert. Zuerst entdeckt Nottingham bei seiner Frau einen Brief Robertos, der ihn so in Wut bringt, dass er sie fesselt und knebelt - Sara robbt an den Rand des Raumes, wo sie bis zum Showdown der Schlussszene ausharrt. Dann hat der Titelheld der Oper seine letzte Szene und Arie. Doch hat er sie nicht allein, sondern wird von den Schergen der Macht dabei blutig gefoltert - hier singt Todorovich sich endlich frei und berührt den Zuschauer auch emotional: «Wie der Geist eines Engels so rein» sei Sara, und dafür gebe er gern sein Blut.

Die Schlussszene gehört dann allein jener Königin, nach der ein ganzes Zeitalter benannt wurde. Doch sie hat sich kaum mehr in der Gewalt. Wie kann mich Sara jetzt alleine lassen, fragt sie sich, und ein Ausbruch schwerer Hysterie kündigt sich an. Das Schwanken zwischen gekränkter Eitelkeit, verzweifelter Liebe, Anwandlungen von Milde und blinder Rachlust werden für Edita Gruberova zum Piedestal ihrer hohen Kunst. Sie gestaltet eine Wahnsinnsszene, die dem Zuschauer den Atem raubt. Die rasenden Koloraturen, die Schwelltöne, die Aufschreie, das Stöhnen nahe dem Unhörbaren, all diese Töne zeichnen ein Bild seelischer Verwüstung. Während ein Kanonenschuss den Vollzug der Todesstrafe bekannt macht, werden die Reichsinsignien hereingebracht: Sie sind in Blut getaucht, wie Elisabeth erkennt, und als sie im Wahn die Krone aufsetzt, verliert sie die Lust am Herrschen. Alle Machtmittel haben ihr nichts genützt. Die große Elisabeth wird zu Edita der Großen, die im Reich der Kunst desto sicherer herrscht.

Und deshalb transzendiert auch diese oft so triviale Musik. Friedrich Haider am Pult des nur mittelgroß besetzten Staatsorchesters muss gar nicht besonders dreinfahren; aus den Mechanismen der Musik werden nun ganz von selbst die Mechanismen der Macht und der Liebe. Ebenso kompetent im Musikalischen wie im Ausfüllen von Loys Regiekonzept der von Andrés Máspero sehr präzise einstudierte Chor. Doch beide Kollektive dienen nur dem Spiel zwischen den vier Protagonisten. Die Nebenrollen sind zuverlässig besetzt, dabei überrascht der junge Nikolay Borchev mit schöner Bassstimme in der Rolle des trendy gekleideten Assistenten. Auch Jakob von Schottland segelt als junger Schnösel immer im Windschatten Elisabeths mit. Zu seinen Gunsten dankt sie in München tatsächlich ab. Während der Chor sie daran erinnert, dass, wer herrsche, nicht für sich selbst lebe, driftet sie ganz in den Wahnsinn ab. Nun hebt Loy das Drama auf Brittens Niveau: In «Gloriana» bedeutet es die größte Demütigung der Königin, dass Devereux in ihr Schlafzimmer eindringt und sie als alte Frau mit schütterem Haar sieht. Hier nur zieht sie selbst die Perücke vom Kopf und lässt das Greisinnenhaar sichtbar werden: Eine Frau bekennt sich zu sich selbst. Die Illusion, eine Königin zu sein, zerbricht. Und damit sind wir auch über die Soap Opera hinaus, in der das nicht möglich wäre. Edita Gruberova und Christof Loy haben die Ambivalenz von Donizettis Musik sichtbar und hörbar gemacht und sie gerade dadurch gerettet.

© Opernwelt, 2004

Review originally published in the March 2004 issue of Opernwelt. Reproduced by permission. Special thanks to Bernd Feuchtner.


(Page last updated: 11-Mar-2004) 
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